Samstag, 31. August 2024

ARCHIV PHOTO ELLINGER

„Das Werk kann weder als unmittelbare Einheit noch als eine bestimmte Einheit noch als eine homogene Einheit betrachtet werden."

Michel Foucault

KB-Filmdoserl aus Metall aus den Jahren 1935 bis 1939

Sollten Sie, verehrte:r Leser:in, sich fragen, was dieses Zitat von Michel Foucault aus "Archäologie des Wissens" mit dem Archiv von Photo Ellinger zu tun hat, um das es ja in diesem Eintrag gehen soll, liefere ich gerne die Erklärung. Haben Sie bitte etwas Geduld, sie entwickelt sich aus dem Folgenden.

Fassade des Ateliers "Carl Ellinger" ca. 1909

Im Jahr 1916 übernahm meine Großmutter ein renommiertes Photoatelier namens Ellinger. Sie hieß damals Betty Steinhart und sollte diesen Namen noch zwei mal ändern. Aus verschiedenen Gründen übernahm sie also mit dem Atelier auch den Namen des früheren Besitzers (Carl ließ sie rasch fallen) und wurde - im geschäftlichen Kontext - zur "Frau Ellinger". So wie ihre Tochter Ruth, die namentlich von Hvizdalek zu Oberhofer mutierte, aber in ihrer photographischen Tätigkeit ebenfalls "Frau Ellinger" war. Zur Unterscheidung zeitweise "die junge Frau Ellinger". Als ich im Atelier angefangen habe, war ich übrigens "das Fräulein Ellinger". Ellinger war quasi unser Pseudonym, ein Teil der professionellen Familienidentität, was den beiden "richtigen" Ellingerfrauen sehr wichtig war.

Die beiden Ellinger-Frauen (Betty inzwischen Platter und Ruth inzwischen Oberhofer mit Nachwuchs)

Dieser gewerbliche Betrieb erstellte nicht nur Portraits, Passbilder, Bilder von Hochzeiten, Bällen und diversen anderen gesellschaftlichen Events, es wurden auch ab dem Beginn der Salzburger Festspiele 1920 - mit Ausnahme der NS-Zeit - Aufführungen und das Festspielrundherum photographisch festgehalten. Ebenso war Photo Ellinger mit den dort Arbeitenden bei der Internationalen Sommerakademie für Bildende Kunst und jener des Mozarteums, im Orff-Institut, bei Vernissagen, Konzerten und anderen Kulturevents präsent.

Das Atelier existierte bis 1979, als meine Mutter krankheitsbedingt schließen musste. Danach gingen die Bilder von den Salzburger Festspielen größtenteils an die Max Reinhardt Forschungsstätte, jetzt sind sie Teil des Archivs der Salzburger Festspiele (ASF), die Bilder der anderen Institutionen an die jeweilige Einrichtung.

"Photo Ellinger" hat liquidiert... Artikel von Franz Endler in "Die Presse" vom 9.8.1980

Ich schreibe mit Bedacht: größtenteils. Denn - und jetzt komme ich zum aktuellen Stand - bei mir liegt das gesamte noch existierende Ellingerarchiv, das nicht weggegeben wurde, und bei meiner Archivarbeit finde ich immer wieder Irrläufer zB von den Festspielen, oder es tauchen Versatzstücke aus der Ateliervergangenheit auf, wie zB die unten abgebildeten, kürzlich aus dem Holzkeller herausgeaperten Bilder, die während ihrer Glanzzeit und über die Jahrzehnte im Atelier hingen.

Gerahmte und teils beschriftete Photos von Richard Strauß, Max Reinhardt, Hugo v. Hofmannsthal, Edwin Fischer, im Hintergrund das verschmutzte Material, in dem sie verpackt waren

Um es in der vollen Dramatik auszudrücken: Bei mir liegen (neben den Bildern von 6 photoaffinen Generationen und 7 Familienzweigen) Tausende Prints und Nevative, Dokumente und diverseste Schriftstücke von und über Photo Ellinger und ich versuche verzweifelnd, alles zu sichten, Teile zu scannen und zumindest halbwegs übersichtlich zu archivieren.

Photos in Schachteln mit Unterteilung

Denn über das leicht bis sehr chaotische Ellinger-Archiv hinaus ist vieles ebenfalls Ellinger-Relevantes von diversen Verblichenen ererbt, liegt in irgendwelchen hübschen Schachterln, deren Inhalt nur durch akribisches Durchschauen zu erfassen ist - und kaum jemand hat zB Namen der Abgebildeten oder gar das Erstellungsdatum verzeichnet.

Der relativ harmlos scheinende Beginn der Sichtungs- und Archivierungsarbeit

Jahrzehntelang habe ich diese Arbeit vor mir hergeschoben, das eine oder andere Bild herausgekramt. Dann endlich aber die Ärmel hochgekrempelt. Vor allem durch den Impuls, den ich durch die ORF Série noire, die rund um meine Großmutter entwickelt wurde, bekommen habe. Mit dem in diesem Zusammenhang entstandenen Buch habe ich aber nichts zu tun (außer Ärger).

Nun aber folge ich dem nächsten Impuls, es entsteht ein Buch über die beiden bemerkenswerten Frauen und ihr Lebenswerk. Dafür grabe ich mich momentan durch das ausufernde Material und werde es bestimmt hier promoten, sobald es publiziert wird.

Ein kleiner Teil der nach Themen/Personen geordneten Archivschachteln und Mappen mit Positiven in einem feuchtigkeitsregulierten Raum

Nach dem zwei Bilder vorher gezeigten Anfang meiner Grundelarbeiten ging es professionell zur Sache. Mein relativ spät absolviertes Studium (Kommunikationswissenschaften mit Schwerpunkt Audiovision) und die aus Interesse betriebene intensive Beschäftigung mit dem Thema Archivierung in allen Facetten sind zumindest das theoretische und handwerkliche Rüstzeug für die Arbeit in Sachen Archiv Photo Ellinger gegeben.

Nach dem Ausbau der technischen Infrastruktur wurden Archivboxen und diverses andere Material zugelegt, die Prints zumindest großzügig nach Personen eingeordnet, hoch aufgelöste Scans von den am wesentlichsten scheinenden Bildern gemacht, die in Kurrent geschriebenen Dokumente und sonstigen Schriftstücke transkribiert. Auch die privaten, denn immer wieder sind ellingerrelevante Hinweise inkludiert.

Postkarte von Betty an ihren Bruder Anton Steinhart, 1908, kurrent geschrieben

Noch bin ich weit davon entfernt, alle Positive von Photo Ellinger und den beiden Ellinger-Frauen erfasst zu haben. Dass ich je alle hier sich stapelnden Vintage Prints von den Festspielen durchgeschaut und geordnet habe, wage ich nicht einmal zu träumen. Viel mehr Sorge machen mir die Filme, die teilweise, wie das untere Bild zeigt bzw andeutet, Hochinteressantes zeigen.

3 eingeschnittene Filmstreifen in Pergamin, die Gottfried v. Einem mit seiner ersten Frau und zwei bisher Unbekannten zeigen

Es liegen noch hunderte, wenn nicht tausende Bilder hier, von denen ich tw. dank der Beschriftung weiß, was auf ihnen festgehalten ist. Glasplatten, Planfilme aller Grüßen, Mittelformatfilme, Kleinbildfilme. Teilweise sind sie jedoch unbeschriftet und meistens sind auf Kleinbildfilmen mehrere Sujets aufgenommen. Überraschung, Überraschung!

In einer Lade Schachteln, darauf ein handgeschriebener Zettel "Negative nicht erfasst"

Das obere Bild zeigt einen winzigen Teil der Abteilung "Negative nicht erfasst". Dazu zahlreiche volle Schachteln und Einzelnegative, die meine schon 1991 verstorbene Mutter mit einer liebenswürdigen, hilfreichen ehemaligen Mitarbeiterin nach der Schließung des Ateliers aussortiert, aufgehoben und "versteckt" hat.

Mehrere Schachteln mit Negativen, einige Bücher mit Aufzeichnungen, weißen Handschuhen und zu scannenden Positiven am Arbeitstisch

Bei der Aufarbeitung dieser Einzelstücke und dem Abgleichen mit Aufzeichnungen bin ich derzeit. Hoch aufgelöste Durchlichtscans sind übrigens etwas für geduldige Menschen. Sehr geduldige...

Das Büro mit dem großen Arbeitstisch, auf dem sich die aktuelle Arbeit türmt

Ich langweile Sie jetzt nicht noch mit den Gerätschaften, die ich vom Atelier bei mir habe. Die alte Kassa, die Schneidmaschine und den Prägestempel von ca. 1900, mehrere Laboratoren (Vergrößerungsgeräte) und Gerätschaften der Dunkelkammer, und, und, und. Nur eines zeige ich Ihnen: die von meiner Mutter geliebte Telerollei. Die hat schon zahllose Prominente und auch Familienmitglieder aufgenommen.

Die Telerollei im "Kleiderl", wie meine Mutter das Etui genannt hat

Ich bin nicht nur Rechtsnachfolgerin nach meinen Vormüttern, ich habe von ihnen und einigen anderen inzwischen verstorbenen, ebenfalls photoaffinen Verwandten alle Bilder und Dokumente geerbt und liebevoll aufgehoben. Auf diesem Schatz sitze ich.

Und nun komme ich zum diesem Eintrag vorangestellten Zitat, das Sie wahrscheinlich schon lang vergessen haben, falls Sie meinen in epischer Breite verfassten Ausführungen gefolgt sind:

„Das Werk kann weder als unmittelbare Einheit noch als eine bestimmte Einheit noch als eine homogene Einheit betrachtet werden.“ 

Eine Collage auf der Behältnisse mit Positiven und Negativen und auch Aufzeichnungen zu sehen sind

Die Relikte des Werks meiner Vormütter, dem ich mich zum Glück widmen kann, ist inhaltlich so inhomogen, wie ein Werk nur sein kann. Selbst wenn ich die beiden auf ihr photographisches bzw geschäftliches Werk reduziere, so ist es keine "bestimmte Einheit". Es ist eine zu bestimmende Einheit und um dem Werk halbwegs gerecht zu werden, muss ich so viel wie möglich wissen und vor allem verstehen.

Zwei Schachteln mit Filmtaschen, einige lose Taschen und eine Mappe mit eingeschnittenen Filmen in Pergamin, dazu Zettel mit Auflistung der Inhalte

Also tauche ich weiter ab in die Vergangenheit, lese mich durch alle auch externen Quellen, derer ich habhaft werden kann, und hoffe, dass ich mindestens 147 Jahre alt werde, um diese durchaus erquickliche Arbeit mit Anstand und Würde abzuschließen.

Rückseite einer Carte de Visite vom Atelier "Carl Ellinger", vorm. Bertel & Pietzner, Inh. Betty Steinhardt (noch mit dt geschrieben) Salzburg

Zum Abschluss noch ein Zitat, das ich auch gnadenlos assoziierend für mich in Anspruch genommen habe. Sie werden verstehen, warum.

"I get slightly obsessive about working in archives because you don't know what you're going to find. In fact, you don't know what you're looking for until you find it." (Antony Beevor)

Danke für Ihr Interesse, Sie werden bestimmt hier noch einiges zum Archiv Photo Ellinger lesen können, wenn es Sie interessiert.

Schlusssatz des Artikels von Franz Endler in "Die Presse", daneben das oft publizierte Ellinger-Bild von Bruno Walter, Thoms Mann und Arturo Toscanini

PS: Für Sehbehinderte beschreiben die Untertitel (ansatzweise) den Inhalt der Bilder.

PPS: Dass ich die Urheberinnenrechte für alle hier gezeigten Bilder habe und jegliche Veröffentlichung nur mit meiner Genehmigung möglich ist, brauche ich wohl nicht zu schreiben. Aber googeln Sie einmal "Photo Ellinger". Sollte nicht AFS/Archiv der Salzburger Festspiele und in ganz wenigen Fällen Theatermuseum Wien oder auch mein Name dabei stehen, dann handelt es sich wahrscheinlich um eine illegale Veröffentlichung. Wobei Sie neben einigen Irrläufern nur Bilder sehen, die zumindest ein Credit angeben, da sind auch Bilder dabei, deren Veröffentlichung ich abgesegnet habe. Ich betreibe die Bildersuche tiefergehend - und erwäge Abmahnungen.

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