Samstag, 6. September 2014

Kleiner Grenzverkehr, flanierend

»Bekannt ist, wie bei der Flanerie Länder- und Zeitenfernen in die Landschaft und in den Augenblick eindringen.«
Walter Benjamin


Wieder einmal tue ich einem Zitat Gewalt an. Walter Benjamin hat diesen Satz in seinen Aufzeichnungen und Materialien zum Passagen-Werk festgehalten, das er ja in Hinblick auf das Paris des 19. Jahrhunderts konzipiert hat.

Mir ist aber beim gestrigen Kameraspaziergang immer wieder der »Flâneur« im Benjaminschen Sinn durch den Kopf gegeistert. Nicht wegen des »Schocks« den nichtvorhandene Großstadtmassen bereiteten, nicht wegen der »amorphen Menge der Passanten«. Die Menschenmasse ist in Kleinstädten doch eher überschaubar.


Ein Schock hat mich lediglich überfallen angesichts der Massen von Fahrzeugen, die sich durch die beiden bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts zusammengehörenden und damals bayerischen Städte Laufen und Oberndorf quälen und das Überqueren der Brücke zu einem ohrenbetäubenden Lärmerlebnis gestalten. Um zu photographieren musste ich die wenigen verkehrsärmeren Augenblicke abwarten, um dann unter Lebensgefahr anmutig auf die Straße zu hechten.


Nicht der Menschen wegen, die diesen milden Tag spazierend genossen, ist der Flaneur durch mein Hirn geschlendert. Das  Sehen und Gesehenwerden schien kaum der Hauptzweck ihres Aufenthalts im Freien zu sein. Eher wurde mir der Eindruck vermittelt, dass Kinder und vor allem Hunde ausgelüftet werden sollten. 


Möglicher Weise hat die Stahlkonstruktion der Brücke des beginnenden 20. Jahrhunderts, auf der die Insignien der k.u.k. Monarchie Österreich-Ungarn und des Königreichs Bayern gülden prangen, meinem Denken einen zeitlichen Rückwärtsstoß versetzt.



Vor allem aber war es mein eigenes Flanieren mit der Kamera und das Aufsaugen des sich Darbietenden, das diese Gedanken evozierte. Schon lange nehme ich mir vor, endlich das Passagen-Werk wirklich und gesamt zu lesen und mich insbesondere mit dem Flaneur zu beschäftigen. Seiner Entsprechung in unserer Zeit nachzugehen. Aber wie im oben verlinkten Artikel zu erkennen ist, befinde ich mich mit meinem selektiven Lesen und wahllosen Herauszupfen von Zitaten in guter Gesellschaft. Das tröstet.

Der Hinweis auf die Zeitreise und das eigene Flanieren ermöglicht mir, halbwegs mit Anstand und Würde ein weiteres Benjaminzitat unterzubringen.
 
»Den Flanierenden leitet die Straße in eine entschwundene Zeit. Ihm ist eine jede abschüssig. Sie führt hinab, wenn nicht zu den Müttern, so doch in die Vergangenheit, die um so bannender sein kann als sie nicht seine eigene, private ist.« (Passagen-Werk Band 1, S. 525)



Zurück also zum Photowalk (wie diese bedächtige Tätigkeit auf Neudeutsch genannt wird) entlang der Salzach, dem Grenzfluss, der dort ein Knie macht. Wirklich ein Knie, nicht nur eine Kurve. Dieses in seiner Gänze aufzunehmen war mir aber nicht möglich, weil just an dieser Stelle ein mittlerer Familienauflauf das Verweilen ohne massiv zu stören unmöglich gemacht hat.

Sowohl entlang des bayerischen als auch der österreichischen Ufers lässt es sich vortrefflich laufen, marschieren oder gehen oder auch schlendern, bummeln. Je nach eigener Lust und Laune und jener der jeweiligen Begleitung. Das gilt auch für Hunde und deren Anhang.





Ein moderner Fußgängersteg ermöglicht das Wechseln von einer zur anderen Seite und natürlich dürfen an einer für die Schiffahrt vergangener Zeiten wichtigen Stelle auch die kirchlichen Versatzstücke nicht fehlen. Auf der bayerischen Seite bewacht ein hölzener St. Rupert den Steg (er gilt als Gründer des christlichen Salzburg und diese Gegend war ein Teil des Fürstzerzsbistums Salzburg), auf der österreichischen Seite tanzt das Gewand eines heiligen Nepomuk beschwingt versteinert, hinter ihm führen Stufen hinauf zu einer Kalvarienbergkapelle, die derzeit renoviert wird.



Jede Menge Treibholz wurde von den Wassermassen der letzten Wochen am Ufer angeschwemmt, von dem besonders urige Exemplare mit nach Hause gegenommen wurden und mit Hingabe habe ich mich den Pflanzen, die entlang der untersten Promenade wachsen, gewidmet. Man könnte köstliche Mahlzeiten mit dem dort wachsenden Beifuß, Oregano (Dost), Thymian und Pimpinelle würzen und eine Naturapotheke mit Johanniskraut, Solidago und diversen anderen Kräutern bestücken. Man kann sie auch photographieren und bei unsinnigen Kletterpartien auf glitschigen Ufersteinen fast den Abhang in die Salzach runterrodeln, so man so intelligent ist, profillose Ballerinas anzuziehen. Aber das ist ein anderes Kapitel.

Denn bald wurde der Blick auf die alte Brücke wieder freigegeben, der mich magisch anzieht. Diesmal haben die steinernen Aare mit ihrer eisern abgestützten Flügelspannweite Besuch bekommen. Von kleinen geflügelten Verwandten, die weitaus weniger beeindruckend mit ihrem Flugwerkzeug umzugehen wissen. Nach unten gebreitet macht es gar nichts her.





Nach einem kleinen Rundgang durch die Stadt mit ihren teils reizvollen alten Gebäuden hatte der Dunst Überhand genommen und endgültig das sanfte, für das photographische Auge so wesentliche Sonnenlicht verdrängt. 




»Der Flaneur (aus französisch flâner „umherstreifen, umherschlendern“) ist ein Mensch, der im Spazierengehen schaut, genießt und planlos umherschweift – er flaniert.« bietet Wikipedia als Definition an.

So gesehen habe ich nur teilweise die Kriterien erfüllt. Denn ich hatte einen Plan: meinen Weg zu dokumentieren, mich vom Anblick des Ortes und der Menschen, die ihn beleben, bewegen zu lassen.

Die Bilder, die ich dabei gesammelt habe, stehen nicht einzeln für sich. Sie sprechen erst in der Zusammenschau. In der Wiedergabe eines Bummels, auf den ich Sie mitgenommen habe, damit sie vielleicht erleben können, wie »Länder- und Zeitenfernen in die Landschaft und in den Augenblick eindringen.«

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